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Mit analogen Kameras begegneten Gaya und Lotti den Anwohner*innen der Germaniapromenade und sprachen mit ihnen über ihr Leben hier.
Sie kleidet sich in den Schlammtönen der Nachkriegsbauten, in Backsteinbraun und ausgewaschenem Verputzrosa. Liedschatten mag sie, tiefblau mit hellroten Polyethylenwimpern darunter. Sie ist Mutter, Straßenbauarbeiter*in, Kioskverkäufer*in, Amazonlieferant*in und ein Hunderudel folgt ihr auf Schritt und Tritt. Sie transportiert ihre Kinder mit dem Bollerwagen zum Spielplatz und markiert dabei jeden Stromkasten, Laternenpfosten und jedes Baumspiegelbeet mit einem Duft nach Erinnerung; ihre Straße ist das Revier der Vierpfötigen: Ratten, Katzen und Hunde beißen hier einander in die Schwanzspitze.
Die Kinder heißen Murad, Irmgard, Kesha oder Bogdan und balancieren auf roten Seilen, die für jede*n von ihnen einmal eine eigene Bedeutung erhalten werden.
Sie trägt eine sorgfältig (manche würden sogar spießig sagen) gepflegte Frisur: prächtige Platanen halten im Sommer die Stirn schattig, da, wo früher die Kühe weideten, so dass der Straßenpuderstaub nicht zerrinnt. Zierblumen umkränzen das Haupt, sie lenken ab von den vielen kleinen Tätowierungen, die ihren Körper übersähen. Impulsive Abziehbildchen verkünden ein politisches Ansichten von kurzer Gültigkeit. Doch Zeit verläuft nicht geradeaus, das weiß sie genau, sondern geschichtet wie der Teer unter ihren Absätzen. Geschichtet. Schichten. Geschichten.
Ihr Brustbewuchs wird den Tratsch vom letzten Jahr schon bald überwuchert haben; Brennnesseln, Knöterich und Gänseweißfuß sprießen aus den Asphaltporen, als würden sie extra dort gesät. Sie scannt das Kraut mit Google Lens und recherchiert, ob es bekömmlich für Meerschweinchen ist. Kleine Keramikzwerge haften an den Rändern ihrer bestickten Ärmel, dem einen fehlt ein Augapfel, dem anderen ein Lungenflügel. Sie hat sie vom Straßenrand aufgeklaubt, wo sonst, in ihrem Reich haben die Dinge einen Zweck so lange bis sie zerbröseln.
Im Sommer wurde sie einer langwierigen Operation unterzogen. Die Wasseradern längs des Rumpfes mussten verstärkt werden. Dafür öffnete man die obere Epidermis entlang des Gehwegs, grub durch Pflasterstein und stieß auf die Rohre im Sandgewebe. Die Genesung wurde ein lange andauerndes Unterfangen, erst im späten Herbst begannen sich die Narben in zufällige Begegnungsachsen zu verwandeln, wo jemand sich den Schuh zuband und sie ein wenig schwindelbefangen ein Verschnaufpäuschen auf dem Weg zum Bäcker einlegte. Wenn sie die anderen nach ihrem Wohlbefinden fragt, haben sie immer irgendetwas; Rücken, ein lahmes Bein, Corona oder Durchfall. Dann schleicht sie in Zeitlupe an den Fassaden entlang und nickt den Biertrinkenden beiläufig zu. Sogar eine Kneipe haben sie nach ihr benannt: Germania-Eck - und einen Späti! Germania-Shop. Da geht sie schon lieber in die Britzer Klatsche, da ist die Autobahnabfahrt und mehr Fahrtwind zu spüren.
Letzten Winter noch schlüpfte sie heimlich zu den Spielautomaten im Keller der 'Kleinen Kneipe'. Die wurde inzwischen endgültig geschlossen und sie muss eh aufs Geld achten wegen der steigenden Heizkosten. Durstlöscher gibt es im Kiezshop für 1,50€, am liebsten den mit Melonengeschmack.
GerMania / Text von Lotti Seebeck
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